Zum ersten Mal aber beginnt Belgien die Ratspräsidentschaft ohne eine vollwertige Regierung. Es ist in anderen Ländern schon früher passiert, dass innenpolitische Probleme einen Vorsitz durchkreuzten. Wir erinnern uns, im Jahre 2009 stürzte die tschechische Regierung auf halbem Wege. In den neunziger Jahren gab es auch in Italien und Dänemark Regierungswechsel innerhalb der Ratspräsidentschaft. Solche Sachlagen stiften Verwirrung denn es ist unklar, wer fortan die Sitzungen leiten wird und Beobachter fragen sich, ob eine neue Regierung noch dieselben europäischen Schwerpunkte wie das vorige Team setzen wird. Jedoch haben die inneren Machtwechsel während des Vorsitzes in der Vergangenheit nie zu auffallend groβen Problemen geführt. Die Sitzungen fanden statt, das laufende Programm wurde erledigt und die Diplomaten, die hinter den Kulissen die Vorbereitungen trafen, blieben im Allgemeinen im Amt.
Die belgischen Behörden haben in den vergangenen Monaten wiederholt betont, die innenpolitischen Unklarheiten werden keine negativen Folgen für den Ratsvorsitz haben. In diesem Beitrag gehen wir zunächst näher auf den belgischen politischen Kontext ein. Wir werfen einen Blick auf die innenpolitische Lage nach den Wahlen und bewerten die Möglichkeit, dass in der zweiten Hälfte des Vorsitzes noch eine vollwertige Regierung gebildet wird.
Dann erörtern wir den geänderten Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft. Die institutionellen Reformen durch den Vertrag von Lissabon haben Folgen für den rotierenden Vorsitz. Das haben die Spanier, die in der ersten Jahreshälfte als Erste mit den neuen Regeln konfrontiert wurden, bereits erfahren. Wir verweilen auch bei der Tatsache, dass der erste ständige Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, ausgerechnet ein Belgier ist. Trotz der durch den Lissabon-Vertrag geringeren Bedeutung des rotierenden Vorsitzes und der beschwichtigenden Worte über die Erfahrung der belgischen Diplomatie mit europäischen Angelegenheiten ist es nicht selbstverständlich, dass scheidende Minister eine Ratspräsidentschaft beginnen. Darauf gehen wir in einem weiteren Abschnitt ein, in dem wir auch bei einigen Paradoxen in der belgischen Europapolitik verweilen.
Abschlieβend besprechen wir die Schwerpunkte der belgischen Präsidentschaft.
Belgiens politisches Chaos
Damit die belgische politische Sackgasse der vergangenen Monate verständlich wird, betrachten wir zunächst die Nationalwahlen 2007. Guy Verhofstadt war während acht Jahren der Premier einer Koalitionsregierung aus Liberalen und Sozialisten. Er verlor aber immer mehr an Popularität und in Flandern florierte nach langen Oppositionsjahren die christdemokratische Partei CD&V. Diese Partei unter der Leitung von Yves Leterme kündigte während der Wahlkampagne an, sie werde nur an einer Regierung teilnehmen, wenn eine neue weitgehende Staatsreform mit zusätzlichen Befugnissen für die Regionen durchgeführt werde. Zudem versprach CD&V ein Ende der Praxis, dass französischsprachige Parteien aus Brüssel in den flämischen Gemeinden in der weiten Umgebung von Brüssel Stimmen einholen können. Sie bemühten sich daher um die Aufspaltung des Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde: Brüsseler Parteien dürften in die flämische Region rund um die Städte Halle und Vilvoorde keine Wahllisten mehr einbringen. Durch ihre ausgesprochen pro-flämische Stellungnahme gelang es den flämischen Christdemokraten, für die Wahlen mit der flämisch-nationalistischen Partei N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie/Neu-Flämische Allianz) ein Kartell zu bilden, welches die Wahlen überzeugend gewann.
Die Verhandlungen mit den französischsprachigen Parteien über die Bildung einer neuen Gesamtregierung verliefen besonders mühsam. Schon bald wurde klar, dass keine der französischsprachigen Parteien bereit war, den flämischen Forderungen Folge zu leisten. Das führte in der Weltpresse zu Spekulationen über den Zerfall Belgiens. Dazu ist es nicht gekommen. Nach einer Zwischenperiode, in der Verhofstadt noch einige Monate Premier blieb, konnte Leterme ab März 2008 dennoch eine Regierung mit niederländisch- und französischsprachigen Christdemokraten und Liberalen sowie französischsprachigen Sozialisten leiten. Die flämisch-nationalistische N-VA hatte sich inzwischen aus dem Kartell mit CD&V zurückgezogen, weil sie nicht glaubte, dass es der neuen Regierung gelingen würde, die flämischen Forderungen aus der Wahlkampagne zu realisieren. Ende 2008 bereits musste Yves Leterme als Premier zurücktreten, weil er während der Bankenkrise ins Gerede gekommen war. Seine Regierung wurde beschuldigt, sie habe die Gewaltenteilung nicht respektiert und versucht, im Zusammenhang mit dem Verkauf der Fortis-Bank Richter zu beeinflussen. Es kam aber nicht zu Neuwahlen, und Parteigenosse Herman Van Rompuy folgte Leterme als Premier. Als Van Rompuy im Spätjahr 2009 zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rats ernannt wurde, fand eine Umbildung der Regierung statt und Yves Leterme wurde erneut Premier. Kaum einige Monate später, im April 2010, stürzte die Regierung, als sich zeigte, dass sich die Hindernisse zwischen französisch- und niederländischsprachigen Parteien als unüberwindbar erwiesen.
Es wurde klar, dass Belgien den europäischen Vorsitz ohne vollwertige Regierung übernehmen würde. Die Wahlen konnten erst im Juni veranstaltet werden und wegen der komplizierten politischen Lage und der tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen vor allem den französisch- und den niederländischsprachigen Parteien war es ausgeschlossen, dass es am 1. Juli 2010 schon eine neue Regierung geben würde. Das bedeutete, dass Belgien mit einer Übergangsregierung in die Präsidentschaft starten würde: einer Regierung mit beschränkten Befugnissen, die weder neue Initiativen ergreifen kann noch wichtige Beschlüsse fassen darf. Diese Rolle übernimmt die demissionierende Regierung, mit Yves Leterme als Premier und Steven Vanackere als Außenminister.
Die Wahlen vom 13. Juni 2010 brachten zwei deutliche Sieger hervor. In Flandern wurde die flämisch-nationalistische N-VA, im französischsprachigen Landesteil die sozialistische PS die größte Partei. Unter der Leitung von PS-Vorsitzendem Elio Di Rupo wird über die Bildung einer neuen Regierung mit PS und N-VA als wichtigsten Parteien verhandelt. Wenn Di Rupo diesen Auftrag zu einem guten Ende führt, wird er der neue Premier. Die Absicht ist, die Verhandlungen im Laufe des Sommers abzuschließen, damit eine neue Regierung im September oder Oktober ihre Arbeit aufnehmen kann. Das hat natürlich Folgen für den europäischen Vorsitz: Heute weiß niemand, wer genau die Ministerräte bis Ende 2010 leiten wird.
Auch ist noch nicht klar, ob es wirklich gelingen wird, im Herbst eine neue Regierung zu bilden. Die Standpunkte der Parteien gehen stark auseinander. Nach den Wahlen 2007 dauerten die Verhandlungen über ein halbes Jahr. Es ist also durchaus möglich, dass die Übergangsregierung die ganze Ratspräsidentschaft im Amt bleibt.
Andererseits haben die Verhandlungsparteien die Absicht, im Spätsommer einen Vergleich zu schlieβen. Die französischsprachigen Parteien sind vermutlich bereit, einem Teil der flämischen Forderungen Folge zu leisten und die flämischen Parteien zeigen sich kompromissfreudiger als im Jahre 2007.
Zusammenfassend können wir also sagen, dass die belgische Präsidentschaft einen ziemlich verwirrten Start hingelegt hat. Als Ende April die Gesamtregierung stürzte, war es klar, dass der Vorsitz am 1. Juli von einer kommissarischen Regierung geführt würde, welche möglicherweise die gesamte Periode im Amt bleibt. Es besteht aber die reelle Chance, dass noch im Laufe des Jahres unter der Leitung des französischsprachigen Sozialisten Elio Di Rupo eine neue Regierung gebildet wird. In dem Moment werden die Minister der demissionierenden Regierung den neuen Ministern Platz machen müssen. Diese neuen Minister werden dann die europäischen Ministerräte leiten müssen. Natürlich ist keines der beiden Szenarien ideal: Im ersteren Fall wird der Vorsitz von einer Übergangsregierung ohne große Autorität versehen, im letzteren gibt es auf halbem Wege des Vorsitzes einen Regierungswechsel, durch den neue Minister plötzlich wichtige europäische Rollen einnehmen.
Hinzugefügt werden sollte noch, dass einige europäische Ministerräte während des belgischen Vorsitzes nicht von der Föderalregierung geleitet werden. Die Regionalisierung ist in Belgien dermaβen fortgeschritten, dass bestimmte Befugnisse vollständig zum Bereich der Gemeinschaften oder Regionen gehören. Wenn die europäischen Umwelt-, Bildungs-, Jugend-, Kultur- oder Fischereiminister tagen, wird der Vorsitz nicht etwa von belgischen Ministern aus der Föderalregierung, sondern von Regionalministern versehen.
Der Vorsitz in einem neuen Kontext
Als die belgische Regierung kurz vor Beginn der Präsidentschaft stürzte, wurde schon bald gesagt, dass das so schlimm nicht sei. Seit dem Vertrag von Lissabon hätte der Vorsitz ja viel an Bedeutung verloren. Der belgische Vorsitz kommt tatsächlich in einem besonderen Moment. Der Lissabon-Vertrag, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, ändert wirklich die Rolle des rotierenden Vorsitzes.
Ein vorsitzendes Land konnte sich in der Vergangenheit vor allem durch den Europäischen Rat profilieren. Der Premier oder der Präsident des vorsitzenden Lands leitete im Allgemeinen zwei Sitzungen der Staats- und Regierungschefs der Union. Diese Sitzungen werden von der internationalen Presse mit großem Interesse gefolgt. Der Vorsitzende sucht aktiv nach Kompromissen in ganz grundlegenden Fragen, leitet die Pressekonferenzen und gibt hinterher im Europäischen Parlament eine Erklärung ab. Der Vertrag von Lissabon bestimmt aber, dass der Europäische Rat in Zukunft einen ständigen Präsidenten hat. Das wurde ausgerechnet ein Belgier, Herman Van Rompuy. Der Premier oder der Präsident des vorsitzenden Landes ist heute lediglich ein ordentliches Mitglied des Europäischen Rats und
sitzt also den Tagungen nicht mehr vor.
Auch die Rolle des Außenministers des vorsitzenden Lands wurde reduziert. Der Lissabon Vertrag bestimmt, dass der Hohe Vertreter (High Representative, HR) für die Außenpolitik die Tagungen der Auβenminister leitet, welche Bezug haben auf die Außenpolitik der Union. Diese Aufgabe wird seit Ende 2009 von der Britin Catherine Ashton erfüllt. Das Amt des Ministers aus dem vorsitzenden Land wurde also eingeschränkt. Auch der Auβenwelt gegenüber wurde die Rolle des rotierenden Vorsitzes reduziert. Es sind der Präsident des Europäischen Rates und der HR, die für die Vertretung der Union nach Auβen einstehen.
Der Vertrag von Lissabon hat also die institutionelle Architektur der Union geändert. Die genauen Folgen werden sich erst später zeigen. Die Praxis wird ja lehren, inwieweit die politischen Prominenten des vorsitzenden Landes hinnehmen, dass ihr Platz im internationalen Schatten von Herman Van Rompuy und Catherine Ashton ist. Unter dem spanischen Vorsitz, in der ersten Hälfte des Jahres 2010, war allerdings merkbar, dass dieser Punkt Gegenstand eines institutionellen Streits war. Das Einvernehmen zwischen Spaniens Auβenminister Moratinos und Hoher Vertreterin Ashton war keineswegs perfekt. Die Kontakte zwischen Premier Zapatero und Präsident Van Rompuy liefen ebenso wenig reibungslos. Zapatero ging davon aus, dass der amerikanische Präsident Obama im Frühjahr einem europäisch-amerikanisches Gipfeltreffen beiwohnen würde. Er wollte dieses Treffen in Madrid und nicht in Brüssel veranstalten. Es entstand ein heftiger Streit mit Van Rompuy darüber, wer Obama im Flughafen begrüβen und ihm als Erster die Hand schütteln dürfte, wer während der Pressekonferenz an seiner rechten Seite sitzen und nachher während des Diners ihm gegenübersitzen soll. Diplomaten haben sich wochenlang gestritten, bis der Streit überflüssig wurde, als Obama ankündigte, dass er nicht kommen würde. Der Vorfall mag sich ziemlich kindisch anhören, illustriert aber, dass der Einfluss des vorsitzenden Land zugunsten der neuen ständigen Leiter und in erster Linie Herman Van Rompuys abgenommen
hat. Wir kommen noch darauf zurück.
Eine weitere institutionelle Novität ist die sogenannte Trio-Präsidentschaft. Damit die Kontinuität der Präsidentschaft gesichert ist, wurde vereinbart, dass drei aufeinander folgende Vorsitze ein gemeinsames Programm erarbeiten würden. Spanien, Belgien und Ungarn haben das geschafft, auch wenn das Programm ziemlich vage ist und vor allem Themen auflistet, die sowieso auf der europäischen Tagesordnung stehen. Jedes Land hat darüber hinaus noch eine Liste mit eigenen Schwerpunkten vorgelegt. Bei der Idee des Trio-Präsidentschaft wurde zu Anfang die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass einer der drei Mitgliedstaaten während achtzehn Monaten einem Rat vorsitzen würde. Dazu ist es in der Praxis nie gekommen. Es ist dem spanisch-belgisch-ungarischen Trio zwar gelungen, ein gemeinsames Logo zu finden, aber viel weiter gehen die Trio-Engagements offenbar nicht.
Herman Van Rompuy gewinnt
Schon vor dem Sturz der Regierung hatten belgische Minister angekündigt, die Durchführung der institutionellen Reformen infolge des Lissabon-Vertrags sei für sie eine wichtige Priorität. Daraus lieβ sich schlieβen, dass Belgien den Kampf, den Spanien noch zu gewinnen versuchte, nicht führen würde. Die belgische Regierung hatte nicht die Absicht, sich mit Landsmann Van Rompuy um Befugnisse zu streiten. Nach dem Sturz der Regierung wurde noch mehr betont, dass der belgische Premier und sein Auβenminister ihre Rolle vielmehr bescheiden auffassen würden. Das wird mutmaβlich eine weitere Konsolidierung der Positionen von Ashton und vor allem Van Rompuy herbeiführen. Es ist kaum vorstellbar, dass die nächsten Ratspräsidentschaften, Ungarn und Polen, diese Tatsache noch ändern können. Ihre Leiter haben nicht das Kaliber von Sarkozy oder Merkel und werden sich nur mühsam profilieren können. Die Chance ist viel gröβer, dass sie im Schatten Ashtons und Van Rompuys bleiben werden, denen es später im Jahre 2010 gelingen wird, sich institutionell zu verstärken.
Es trifft sich also nicht allzu schlecht für die belgische Regierung, dass die Rolle des rotierenden Vorsitzes gerade jetzt bescheidener gespielt werden kann. Die Tatsache, dass der erste ständige Präsident des Europäischen Rats ein Belgier ist, macht es leichter, das zu verantworten, mit Sicherheit auch der eigenen Bevölkerung gegenüber.
Trotzdem ist die Entwicklung merkwürdig. Der Plan für einen ständigen europäischen Vorsitz wurde in der Zeit des Europäischen Konvents als Vorbereitung auf den Verfassungsvertrag ausführlich erörtert und wurde letztendlich die Blaupause für den Lissabon-Vertrag. Gemeinsam mit einigen anderen kleinen Mitgliedstaaten war Belgien damals einer der heftigsten Gegner des ständigen Vorsitzes. Wenn die rotierende Präsidentschaft dann doch verschwinden sollte, bevorzugte Belgien für den ständigen Vorsitzenden eine bescheidene Rolle. Er sollte eher ein „Vorsitzender“ als ein „Präsident“ sein und unter keinen Umständen mit dem Präsidenten der Kommission in Konflikt geraten. Ironisch ist, dass der erste ständige Präsident ein Belgier ist und die politische Instabilität in Belgien heute dazu führt, dass dieser ständige Präsident in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 seine Macht ungestört erweitern kann.
Die Ratspräsidentschaft ist keine Priorität
Die geringere Bedeutung des rotierenden Vorsitzes wird als Argument benutzt, um nachzuweisen, dass es nicht so wichtig ist, dass Belgien den Vorsitz mit einer Übergangsregierung führt. Das muss sich allerdings noch zeigen. Es gibt immer noch über dreiβig Tagungen und einige Hunderte Dossiers, die von belgischen Ministern, egal ob sie zurücktreten oder bald eine neue Rolle übernehmen werden, geleitet bzw. behandelt werden müssen. Sie sind heute noch dabei, den Wahlausgang zu feiern oder zu verdauen, den Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde zu spalten, eine Staatsreform zu organisieren, eine neue Stelle zu suchen oder über eine neue Regierung zu verhandeln. Welchen Platz Europa in der Reihenfolge der Prioritäten innehat, ist nicht so klar, aber ganz obenan wird es wohl nicht stehen. Trotzdem liegen auf den europäischen Verhandlungstischen schwierige Dossiers wie Klima, Sozialpolitik, Verbraucherschutz, Landwirtschaft und die Inangriffnahme der Wirtschaftskrise. Es ist nicht so einfach, die Mitgliedstaaten darüber auf eine Linie zu bekommen und schlieβlich ist eben das die wichtigste Aufgabe einer Ratspräsidentschaft: die Suche nach einem Durchbruch in Fragen, über die sich die Mitgliedstaaten uneinig sind.
Darüber hinaus muss mit dem Europäischen Parlament verhandelt werden, welches über die meisten Fragen mit entscheidet. Wenn ein Minister schon selbst nicht den Eindruck erweckt, dass er ehrgeizig mit den zahlreichen komplexen Dossiers vorankommen will, so wird das bald ein Vorwand für Länder, die sich querlegen möchten, um auf die Bremse zu treten. Die Begeisterung eines Vorsitzenden kann Dossiers vorantreiben. Mangel an Begeisterung führt im Allgemeinen zu einer bedrückten Atmosphäre. Die Ergebnisse sind dann auch dementsprechend.
Selbstverständlich liegt der belgische Vorsitz nicht völlig auf den Schultern der Minister. Unter den Ministerräten befindet sich eine ganze Pyramide von Hunderten von Arbeitsgruppen und Ausschüssen, die die Arbeit der Minister vorbereiten. Auch alle diese Versammlungen werden sechs Monate lang Belgier leiten: Diplomaten, Mitarbeiter der belgischen Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union, Funktionäre und Experten. Sie befassen sich schon seit Monaten, manchmal sogar Jahren, mit der Vorbereitung dieses Vorsitzes. Das könnte übrigens das wichtigste Argument für die Erhaltung des Rotationssystems sein: eine ganze Verwaltung wird regelmäßig gezwungen, sich in die europäische Beschlussfassung hineinzuarbeiten. Die hohen belgischen Diplomaten haben viel Erfahrung mit europäischer Politik und werden schon verhindern, dass Unfälle passieren. Irgendwo wird es übrigens schon einen Diplomaten geben, der sich darüber freut, dass er zurzeit ohne allzu große politische Einmischung arbeiten kann. Aber eine Präsidentschaft, die nicht voll bei der Sache ist, ist doch gehandikapt.
Das Paradox der belgischen Europapolitik
Im Vorfeld wurde wiederholt auf die stabilisierende Rolle der belgischen Diplomatie verwiesen, weil sie mit europäischen Angelegenheiten viel Erfahrung hat und verhindern kann, dass ein möglicher Regierungswechsel hohe Wellen schlägt. Belgiens vorige Ratspräsidentschaften wurden im Allgemeinen übrigens positiv bewertet. Es wurde mit der Kommission, dem Generalsekretariat des Rates und zunehmend auch mit dem Europäischen Parlament eng zusammengearbeitet. In den meisten Dossiers zeigten sich die Belgier fähig, Kompromisse zu schlieβen. Sie verfolgten, manchmal im Gegensatz zu den groβen Mitgliedstaaten, keine impulsive oder eigensinnige Politik. Zugleich gelang es Belgien, eben dank einer guten Vorbereitung und einer geschmeidigen Zusammenarbeit mit den anderen Institutionen, in der Europapolitik eigene Akzente zu setzen und der Union sogar neuen Schwung zu geben. Die Erklärung von Laeken, die 2001 unter belgischem Vorsitz ausgehandelt wurde, ist dafür ein gutes Beispiel.
Die belgischen politischen Führungspersönlichkeiten konnten sich während eines Vorsitzes international profilieren. Es ist kein Zufall, dass sowohl Jean-Luc Dehaene als auch Guy Verhofstadt kurz nach ihrem jeweiligen Vorsitz starke Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission waren. Willy Claes, der als Auβenminister während des Vorsitzes 1993 einen guten Eindruck machte, avancierte kurz danach zum Generalsekretär der NATO. Belgien hat einen europafreundlichen Ruf, der sich auch durch das Eurobarometer belegen lässt. Die Belgier gehören zu den stärksten Befürwortern der europäischen Integration. Auch das wurde in den vergangenen Wochen als ein beruhigendes Signal gedeutet: Über die Parteigrenzen hinaus sind die Belgier als „gute Europäer“ bekannt.
Dieser Ruf steht aber im scharfen Kontrast zum geringen politischen Interesse für europäische Fragen im Allgemeinen und den Vorsitz im Besonderen. „Europa“ war in den vergangenen Jahren kaum ein Thema in der belgischen politischen Debatte. Im Gegenteil, die belgische Politik ist stark nach innen gerichtet und im Parlament oder in den politischen Parteien wird über europäische Fragen kaum debattiert.
Es ist ein merkwürdiges Paradox, dass in einem der europafreundlichsten Länder der Union für dasjenige, was auf europäischer Ebene geschieht, kaum Interesse vorliegt. 2009 wurde der belgische Staat wegen Nicht- oder Fehlumsetzung europäischer Richtlinien sechzehn Mal vom Europäischen Gerichtshof verurteilt. Selten hat der Hof in einem Jahr einem Land so oft auf die Finger geklopft. Aus der neuesten Übersicht der Kommission geht hervor, dass beim Gerichtshof fast einhundert Verfahren wegen Nicht- oder Fehlumsetzung europäischer Regeln laufen. Nur in Spanien und Italien ist die Lage noch problematischer. In den vergangenen drei Jahren hat die Zahl der Verfahren gegen Belgien um 50 Prozent zugenommen.
In der Vergangenheit wurde eine näher rückende EU-Ratspräsidentschaft von der belgischen Politik dazu genutzt, kurzfristig groβe Rückstände wettzumachen. Diesmal ist das viel mühsamer verlaufen, und die Regierung wurde dafür vom Parlament nie wirklich in die Verantwortung genommen. Dass die Ratspräsidentschaft politisch eingefordert wurde, kann dann auch nicht behauptet werden.
Programm der belgischen Ratspräsidentschaft
Das verhältnismäβig geringe (politische und öffentliche) Interesse für den Vorsitz bedeutet aber nicht, dass nicht an einem belgischen Programm gearbeitet wurde. Es bietet vor allem einen Überblick über die Themen, die auf jeden Fall Teil des laufenden Programms der Europäischen Union sind. Die belgischen Schwerpunkte schlieβen damit an die vorliegenden Dossiers an.
Es wird z. B. der Debatte über Wirtschaftsverwaltung groβe Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird auf die Reform des Finanzsektors eingegangen und es wird lange bei der Durchführung der neuen Wachstumsstrategie EU 2020 verweilt. Obwohl das Programm im Allgemeinen wenig revolutionär oder eigensinnig ist, sind doch einige Akzente auffällig. Sie sind in Hauptsache sozial inspiriert und beziehen sich u. a. auf sozialen Zusammenhalt, Beschäftigung und Armutsbekämpfung.
Auch Umwelt und Klima stehen oben im Programm, u. a. im Rahmen der Vorbereitung des Klimagipfels von Cancún und des Biodiversitätsgipfels von Nagoya, im Herbst 2010. Es ist die Absicht, in einem sich ändernden internationalen Kontext zu einem klaren europäischen Standpunkt zu gelangen und zugleich dafür zu sorgen, dass sich die europäischen Vorschriften in diesen Bereichen fortentwickeln.
Der Vertrag von Lissabon ist selbstverständlich ebenfalls ein Thema. Einerseits sollen einigen der neuen Bestimmungen des Vertrags (Bürgerrechtsinitiative, Solidaritätsklausel, Europäischer Auswärtiger Dienst, usw.) weiter Gestalt gegeben werden und zum anderen ermöglicht der Lissabon-Vertrag eine schnellere Beschlussfassung über den sogenannten Raum für Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit. Der Vertrag erweitert auch die Befugnisse der Union, beispielsweise im Bereich der Sportpolitik. Belgien will in diesem Zusammenhang über die möglichen Ausgangspunkte nachdenken.
Trotz dieser Akzente ist das Programm offenbar ziemlich bescheiden. Wie gesagt bietet es ja vor allem einen Überblick über die Debatten, die in den nächsten Monaten sowieso stattfinden müssen. Das macht das Programm aber auch realistisch. Zudem wird ein Vorsitz im Allgemeinen als erfolgreich bewertet, wenn es ihm gelingt, einerseits die vorliegende Tagesordnung geschmeidig zu erledigen und andererseits aufmerksam auf unerwartete Ereignisse zu reagieren.
Schlussfolgerungen
Belgien übernimmt den Vorsitz der Europäischen Union in einem schwierigen Moment. Die innenpolitische Lage nimmt die Aufmerksamkeit der Politiker völlig in Anspruch und es ist unklar, ob im Laufe des Vorsitzes eine neue Regierung gebildet werden kann. Die heutige Regierung ist eine Übergangsregierung, der die Autorität fehlt, sich stark zu profilieren. Neue Minister, die im Spätjahr vielleicht die Rolle übernehmen, haben möglicherweise nur wenig Erfahrung mit der europäischen Beschlussfassung.
Mit dem kürzlich in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon verringerte sich die Bedeutung des rotierenden Vorsitzes, aber die Praxis wird zeigen, wie die Befugnisse genau abgegrenzt werden. Vieles deutet darauf hin, dass die Hohe Vertreterin Catherine Ashton und vor allem Herman Van Rompuy, der erste ständige Präsident des Europäischen Rats, es schaffen werden, in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 ihre Positionen endgültig zu konsolidieren. Die belgische Präsidentschaft wird sich mehr zurückhalten als die spanische. Für Ungarn und Polen, die Vorsitzenden des Jahres 2011, wird es schwierig sein, diese Entwicklung noch abzuwenden.
Immerhin wird der belgische Vorsitz mit einer groβen Menge wichtiger Dossiers konfrontiert. Sie beziehen sich auf Wirtschaftsverwaltung, Klima, die Wachstumsstrategie EU 2020, Auβenpolitik, Asyl- und Zuwanderungspolitik und Dutzende ganz konkreter Themen. Es müssen zwischen den auseinandergehenden Standpunkten der Mitgliedstaaten immer Kompromisse gesucht werden und es muss mit dem Europäischen Parlament verhandelt werden. Die belgische Diplomatie, die hinter den Kulissen den Vorsitz vorbereitet hat, ist in diesem Bereich sehr erfahren. Die Kompromisskultur wird als ein typisches Merkmal der belgischen Politik im Allgemeinen betrachtet. Vielleicht wurde Herman Van Rompuy eben deshalb zum Europäischen Vorsitzenden ernannt: wer es schafft, Belgien zusammenzuhalten, kann auch im europäischen Rahmen nützlich sein. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die belgische Politik trotz des inneren Chaos imstande ist, mit dem gleichen Erfolg wie in der Vergangenheit den europäischen Vorsitz zu führen.
......
Hendrik Vos (*Mechelen, 1972) studierte Politische Wissenschaften an der Universität Gent, wo er 1999 Professor an der Abteilung für Politische Wissenschaften wurde. Zurzeit ist er dort auch Direktor des Zentrums für EU-Studien. Seine Forschungsarbeiten spezialisieren sich auf Entscheidungsfindung und aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Union. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen in renommierten Fachzeitschriften sowie Teilnehmer an vielen internationalen Konferenzen. Hendrik Vos ist als Kommentator in EU-Angelegenheiten bei Zeitungen, Radio und Fernsehen sehr gefragt.
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EU-Ratspräsidentschaft Belgien 2010
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